Zurvanismus

Als Zurvanismus (oder Zervanismus) wird ein Zweig des Zoroastrismus bezeichnet, dem als Prinzip der Weltentwicklung „Zurvan“ zugrunde liegt. Der Begriff bezeichnet die zeitliche und räumliche Dimension des Kosmos. In der älteren Iranistik gab es bis in die 1960er Jahre systematische Annahmen einer zurvanistischen Konfession innerhalb des Zoroastrismus, während in der heutigen Forschung fast alle Elemente dieser Konstruktion in Frage gestellt werden.

Grundidee ist „Zurvan akarano“ (die unbegrenzte Zeit bzw. „unendliche Zeit“), deren die materielle Welt bestimmende „Entäußerung“ bzw. Emanation die „endliche“ oder begrenzte Zeit bzw. endliche Weltzeit (und Weltraum) ist. Im Zurvanismus sind die zoroastrischen Konzepte Ahura Mazda (Gutes, Licht, Weisheit, Wahrheit) und Angra Mainyu (Böses, Finsternis, Dummheit, Lüge, „Trug“; mittel- und neupersisch Ahriman) nicht nur gegensätzliche Prinzipien, sondern Kinder Zurvans und Zwillinge. Charakteristisch für den Zurvanismus war eine aus der babylonischen Astrologie stammende Äonenlehre, nach der der Kampf zwischen Gut und Böse einem festgelegten heilsgeschichtlichen Ablauf von dreimal (oder viermal) 3000 Jahren folgt. Dieses Merkmal ist in den zoroastrischen Überlieferungen aus dem 9./10. Jahrhundert gut belegt und fester Bestandteil der allgemein zoroastrischen Kosmogonie und Kosmologie des Bundahischn.

Ein adeliger Meder (links vorne) neben einem adeligen Perser (rechts vorne) in der Tracht seit 4. Jahrhundert v. Chr., hinten ein einfacher Perser und Meder der Zeit (Illustration aus Zur Geschichte der Kostüme von Braun & Schneider, 1861–1880 München)

Wahrscheinlich war der Zurvanismus in den Westgebieten des vorislamischen Iran dominierend (Medien, Persis, Ost-Kleinasien, sowie iranische Kolonien Mesopotamiens, Westkleinasiens und des Nahen Ostens), während der orthodoxe Zoroastrismus möglicherweise in den Ostgebieten dominierte (Parthien/Chorasan, Choresmien, zeitweise auch Baktrien, Sakistan und vielleicht Sogdien – hier aber seit dem 3. Jahrhundert n. Chr. neben starken Anhängerschaften des Mahayana-Buddhismus, des christlichen Nestorianismus und in Sogdien auch des Manichäismus). Der Zurvanismus betont ein Urprinzip der Welt und eine Prädestination (Vorsehung des Schicksals), der sich niemand entziehen kann. Der orthodoxe Zoroastrismus (in der Iranistik oft „Mazdaismus“ genannt, nach dem mittelpersischen Ausdruck mazda-yasna = Anbetung des Mazda) lehrte dagegen die individuelle ethische Glaubensentscheidung. Ein freier Wille also, Gutes oder Böses zu tun und die Konzepte der Sünde, der Sündenvergebung durch Beichte und Buße, wie auch die Bestrafung des Bösen im Jüngsten Gericht waren zentrale Bestandteile der Lehre und Ethik des mazdaistischen Zoroastrismus (der sich selbst auch veh-den = „Gute Religion“ nannte). Dagegen vertrat der zurvanistische Zoroastrismus offenbar durch Betonung des Schicksals in Zurvan, durch die Prädestination also, tendenziell eine gegenteilige Ethik.

Beide gemeinsam hatten einen starken Einfluss auf abrahamitische Religionen (Judentum, Christentum, Islam), auf griechisch-römische Philosophien wie die des logos, auf römische Mysterienkulte, auf die Gnosis und ihre Ableger (Manichäismus, Katharer usw.) und auf die islamische Philosophie, den schiitischen Islam und besonders einige schiitische Sekten, zum Beispiel die Qarmaten.

Der Zurvanismus war im spätantiken Sassanidenreich recht einflussreich. Schon in vorsassanidischer Zeit (vor 224 n. Chr.) dürfte sich der Zurvanismus in eine ästhetische Richtung (Dualität zwischen männlichen und weiblichen Prinzipien), eine fatalistische Richtung (absolute Betonung der Prädestination im Hinblick auf das Schicksal) und in eine materialistische Richtung (Verneinung alles Göttlichen außerhalb von Zeit und Raum bis hin zum Atheismus) gespalten haben. Der Zurvanismus neigte also zur nichtreligiösen mystischen Philosophie, die in der islamischen Philosophie fortlebte.


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